Der schöne Goldvogel kam einfach so in meinen Kopf geflogen und hat mir seine Geschichte erzählt.
Goldvogel und die mufflige alte Weide
Der arme Goldvogel war kurz vor dem Aussterben.
Er hatte sich tief in den Urwald zurückgezogen, obwohl das eigentlich gar nicht sein Lebensgebiet war.
Wenn er es sich hätte aussuchen können, dann wäre er über offene Felder und Lichtungen stolziert, so dass alle sein glänzendes Gefieder schon von weitem in der Sonne hätten strahlen sehen können.
Ach ja, einstmals war Goldvogel die Attraktion unter den Tieren gewesen, damals, als alle die Welt noch teilten.
Leider war es nun so, dass die meisten Goldvögel ausgerottet waren, weil die Menschen sich mit ihren Federn schmücken wollten.
„Ja, ja,“ dachte Goldvogel wehmütig, sein Großvater war gestorben, damit seine Federn die Hüte vornehmer Damen zieren konnten.
Seine Großmutter wurde zu Federmasken für den Karneval verarbeitet. Also, ihre schönen goldenen Federn natürlich. Den Rest hatte man damals weggeworfen.
Ja, und die Eltern von Goldvogel, also wo die waren, das wusste er nicht.
Auch nicht, ob sie überhaupt noch lebten.
Überhaupt wusste Goldvogel nicht, ob er nicht der einzige Goldvogel auf der Welt war,
denn er hatte schon seit einem Jahr keinen anderen seiner Gattung mehr gesehen.
Goldvogel lebte also im Urwald. Wie gesagt, er fand es dort eigentlich blöd, denn es war ihm viel zu feucht und viel zu dunkel. Aber immerhin war er dort einigermaßen sicher vor den Menschen. Denn die fanden den Urwald auch ungemütlich und anstrengend. Also alle Menschen bis auf die Indianer, die im Urwald zu Hause waren. Diese waren keine Gefahr für ihn. Niemals würden die Indianer des Urwaldes einen Goldvogel töten.
Aber leider wurden diese Indianer auch immer weniger, ihnen ging es im Grunde auch nicht besser als dem schönen Goldvogel.
Sie mussten sich alle verstecken vor den Menschen, die alles im Kopf gleich in Geld umrechnen.
Also Jäger, Holzfäller, Viehzüchter, Vermögensberater, Straßenbauer, Urlauber usw.
Unser Goldvogel lebte darum notgedrungen im dichten, dunklen Urwald.
Aber er war natürlich auch schlau.
Also, man kann schön sein und trotzdem schlau.
Unser schöner Goldvogel zum Beispiel, der flog nur bei Vollmond über den Bäumen. Dann konnte er einigermaßen gut sehen, was unter ihm lag und niemand sah ihn.
Auf einem dieser Nachtflüge hatte Goldvogel eine kleine Lichtung entdeckt.
Sehr versteckt, tief, tief im dichtesten Urwald.
Aber eben – eine helle, freundliche, ebene Lichtung, eine Wiese mitten im Wald.
Goldvogel kreiste also hoch über den alten Urwaldbäumen, über ihm leuchtete der Vollmond so hell, dass kaum Sterne zu sehen waren. Unter ihm lag, im Mondschein gut zu sehen, ein freier, runder, offener Platz.
Vorsichtig, wie Goldvogel gelernt hatte zu sein, blieb er eine halbe Stunde in der Luft und beobachtete alles von oben.
Nichts schien sich dort unten zu regen, hohes Gras schimmerte im Mondlicht und wiegte sich leicht im Wind.
Ein paar Fledermäuse kreuzten seine Flugbahn auf der Jagd nach Nachtfaltern. Aus dem Wald kamen die üblichen Geräusche der Nacht: Das anschwellende Zirpen der Zikaden, Schreie der Nachttiere auf der Jagd.
Doch auf der Lichtung unter ihm war alles ruhig.
Schließlich wagte es Goldvogel, zu landen.
In weitem Bogen segelte er hinab, sein Gefieder schimmerte, er sah aus wie ein glänzender Drache, der vom Himmel herunter segelt.
Dann streckte er seine langen, dünnen Beine aus und landete flatternd und staksig im hohen Gras.
Er blieb stehen – mucksmäuschenstill – und lauschte.
Alles war ruhig.
Er sah sich um – keine Bewegung war zu erkennen, keine Schritte zu hören.
Er war allein.
Goldvogel entspannte sich und holte tief Luft.
Er breitete seine großen Flügel aus und schüttelte sich.
„Aah“, dachte er, „das ist ja mal ein schöner Platz!“
„Ich fühle mich sofort wohl hier:“
Dann begann er durch das hohe Gras zu staksen.
Einmal – zweimal – dreimal lief er um die ganze Lichtung.
Niemand war dort außer ihm und er fühlte sich wie ein König, der ein neues Königreich gefunden hat.
Dann reckte er den Hals Richtung Himmel und rief ein lautes:“Kräääääk“ zum Mond hinauf, so sehr freute er sich.
„Das ist mein neuer, allerbester Platz, hier bleibe ich!“, dachte er und begann vor Freude einen Tanz aufzuführen: Er flog hoch, kräääkte, hüpfte herum, kräääkte, bis es plötzlich: Knack! machte.
Ein einziger krüppliger, verdorrter, kleiner Baum stand im Gras. Der Baum hatte ein Gesicht und das Gesicht öffnete die Augen.
„Spinnst du wohl?“, sagte der Baum mit knarziger, wütender Stimme. “Musst du mir noch mehr Äste abbrechen? Ich hab` sowieso fast keine mehr! Du spinnst wohl!“
Goldvogel hatte sich so erschrocken, dass er einen Satz zur Seite genommen hatte. Da stand er nun mit aufgeplusterten Federn und starrte den krüppligen Baum an.
„Du hast wohl einen Vogel, mitten in der Nacht hier herumzutanzen? Und Augen hast du wohl auch keine im Kopf? So eine Frechheit, eine alte Frau aus dem Schlaf zu reißen!“, schimpfte der Baum mit knarziger Stimme.
„Entschuldige bitte“, sagte Goldvogel, nachdem er sich ein wenig vom ersten Schreck erholt hatte. „Ich hab` dich übersehen“. Er wollte gerade noch sagen: “Wieso sprichst du überhaupt, du bist doch ein Baum!“, aber dazu kam er nicht, denn die alte Baumfrau keifte bereits: „Nimm gefälligst deine Federn aus meinem Geäst, ich bin doch kein Kleiderständer“.
Na ja, Geäst ist ja wohl übertrieben, dachte Goldvogel, ein paar dürre Zweige sind alles, was es da noch gibt. Aber er war ein Gentleman und erwiderte höflich: „Gnädige Frau, ich bitte um Verzeihung, sie gestört zu haben. Es ist allein meiner Freude zu schulden, diesen vortrefflichen Ort entdeckt zu haben“.
Und mit zierlichen Bewegungen pickte er drei Federn aus dem „Geäst“ der alten Weide. “Nun gut“, antwortete diese fürnehm, „dann will ich heute Gnade walten lassen“.
Sie drehte leicht den Kopf, es knarrte, und blickte ihn hochnäsig an. „Mein Name ist Edeltraud von der Weide. Dies ist meine Grafschaft!“
Sie versuchte ein Zeichen zu geben, dass die ganze Lichtung damit gemeint war. Aber außer einem Ächzen als sie sich drehen wollte, brachte sie nichts zu Stande.
„Oh, mein steifer Rücken“, jammerte sie. „Ich leide an der Gicht, es ist meinem Alter geschuldet“.
Es wurde still auf der Lichtung.
Ein Frosch quakte im feuchten Gras.
Goldvogel wusste nicht, was er jetzt machen sollte. Er räusperte sich. „Du hast eine tolle Grafschaft“, sagte er und warf einen verstohlenen Blick auf die Alte.
Die kniff ihre Augen zusammen und sah ihn listig an.
„Du brauchst dich gar nicht bei mir einzuschleimen“, knarzte sie, „das haben schon andere versucht“.
Der Frosch quakte wieder.
Ich bin wieder mal viel zu nett, dachte Goldvogel. Ich brauche doch keine Erlaubnis, um hier herumzulaufen!
Aber er war einfach zu gut erzogen, um es laut auszusprechen. Und außerdem war er eben ein Goldvogel und die sind von ihrer Art her schon außerordentlich höflich. Sie können nicht anders, es wird ihnen sozusagen ins Nest gelegt.
Er sah sich um.
Und überlegte.
Kreisrund war die Lichtung, ringsum standen riesenhohe Urwaldbäume.
Wie eine schwarze Mauer.
Und genau in der Mitte stand die alte Weide.
„Warum stehst du eigentlich hier, so ganz allein und mittendrin?
Warum wachsen hier keine anderen Bäume?“
„Ich lasse sie nicht!“
„Aber du bist alt und dünn und klein“.
„Ich bin giftig!“ Ganz kurz leuchteten die Augen der Alten grün auf.
Goldvogel hatte auf einmal einen Kloß im Hals. Er ging eine wenig auf Abstand.
Die will mich doch für dumm verkaufen, ging es ihm durch den Kopf.
„Ah haaa ha ha ha ha haa!!!“, lachte die Alte laut und schrill, es hallte von den Bäumen wie ein Echo zurück.
Ein kalter Schauder lief über Goldvogels Rücken. Ohne es zu merken hatte er sein Gefieder gesträubt und sah jetzt aus wie ein dicker Federball auf zwei Streichholzbeinen.
Die alte Weide wurde ihm so langsam unheimlich. Also bei der will wahrscheinlich keiner in der Nähe wachsen, die halten hier alle freiwillig Abstand, dachte er und dann sagte er es.
„Soso, Schnellmerker“.
Die Alte grinste.
„Es ist schon zu spät, du gehörst jetzt mir!“
Goldvogel hatte nun genug und wollte weg.
Er wollte ein Bein heben, aber es ging nicht. Verzweifelt versuchte er, einen Fuß vom Boden zu heben. Es ging nicht. Beide Füße waren von den Wurzeln der alten Weide überwuchert. Seine Füße begannen zu brennen wie Feuer.
„Hilfe!!!“, wollte er rufen, aber nur ein schwaches Röcheln kam aus seinem Schnabel.
Vor Angst waren seine schönen Augen weit aufgerissen.
„Lass mich frei!“, bat er mit schwacher Stimme.
Die alte Weide zitterte.
Sie zitterte und knisterte.
Goldvogel fühlte, wie ihn sein Leben verließ. Er wurde immer schwächer. Alle Energie lief aus ihm heraus und in die Wurzeln der bösen Giftweide hinein.
Sein schönes Gefieder verlor den goldenen Glanz, wurde grau und kräuselte sich. Goldvogel sank auf den Boden, wurde zu einer Pfütze und gierig aufgesaugt von den Wurzeln der Weide.
So hätte es kommen können.
Aber es kam nicht so.
Die alte Weide zitterte.
Sie zitterte und knisterte.
Goldvogel fühlte, wie er immer schwächer wurde.
Da kam ein unheimlicher Schrei vom Himmel.
So laut, dass es schien, als hätte der Mond geschrien.
Goldvogels Ohren klingelten. Sein Rücken versteifte sich. Er fühlte, wie seine Flügel sich ausbreiteten und wie er wieder stark wurde.
Dann schoss ein goldener Blitz herab.
Und bohrte sich in die Rinde der Giftweide.
Die stieß ein Heulen aus, das selbst die Bäume des Urwalds erschauern ließ.
Plötzlich fühlte Goldvogel, dass seine Füße wieder frei waren.
„Komm schnell!“ schrie er die Goldvogelfrau an, die mit ihrem Schnabel im Stamm der bösen Weide steckte.
Sie zog mit aller Kraft und riss ihren Schnabel heraus. Dann spuckte sie dreimal das Gift aus.
„Komm schnell!“, schrie Goldvogel wieder.
Die alte Weide machte ihre bösen Augen auf.
„Nicht hineinschauen!“, schrie die Goldvogelfrau.
Sie rannten los, breiteten die Flügel aus und erhoben sich in die Luft.
Höher und höher flogen die beiden Goldvögel, bis die Lichtung unter ihnen nur noch als kleiner Kreis am Boden zu erkennen war.
Schwach hörten sie tief unten das Wutgeheul der Weide.
Sie sahen sich an.
Und lächelten.
Dann flogen beide Goldvögel über den Urwald davon.
Weit weg fanden sie einen Ort, der zauberhaft und unberührt war. Hoch oben, fast bei den Wolken.
Dort beginnt eine neue Geschichte.
Die alte Weide steht immer noch da und tut so, als ob sie schwach wäre.
Sie kann es lange aushalten, ohne zu essen.
ENDE