Die Geschichte von den Herzkäfern beschreibt, was mit einem Kind passieren kann, wenn es schutzlos der emotionalen Unfähigkeit von Erwachsenen ausgesetzt ist. Ich benutze ein traumatisches Erlebnis, um einen Menschen wachzurütteln. Es verändert seine Wahrnehmung und er erkennt, was er wirklich will.
Herzkäfer
Kapitel 1
Die Herzen von Mensch und Tier
Manchmal im Leben, sieht man etwas, dessen man sich nicht sicher ist. Vielleicht geht man gerade spazieren, einen kleinen Pfad unter Bäumen entlang eines Bächleins und blickt, in Gedanken versunken, auf das Spiel von Licht und Schatten, das die Sonne auf den Boden zaubert. Plötzlich fällt ein funkelndes Glitzern vom Wegrand ins Auge.
Oder vielleicht beim Einkaufen. Gerade eingeparkt, steigt man aus dem Auto und im Moment, in dem der Fuß den Boden berührt sieht man ein Glitzern neben dem Reifen. Automatisch bückt man sich, um nachzusehen, was dort liegen mag, etwa eine Münze, ein Schmuckstück oder buntes Glas?
Beim Spaziergang wird man aus den Gedanken gerissen, läuft hin zu der Stelle, an der man das Funkeln am Boden bemerkte. Doch sobald man danach greifen will, ist es weg.
Vielleicht runzelt man die Stirn und überlegt: Was war das, dreht sich nochmal um, sieht noch einmal nach, aber es ist nichts mehr da.
Es war wohl nichts als eine Lichtspiegelung.
Dann kommen andere Gedanken und es war nur ein flüchtiger Moment im Leben.
Dieses kleine Funkeln jedoch, könnte auch ein Herzkäfer gewesen sein.
Über die Herzkäfer gibt es keine Beschreibung im Insektenbuch. Doch sie existieren wirklich. So winzig, wie sie sind, so schnell flitzen sie, so dass man sie nur als Lichtreflex am Boden wahrnimmt. Aus diesem Grund gibt es keine Abhandlungen über sie, auch keine Fotos. Sie sind schnell wie der Blitz.
Wenn Licht auf sie fällt, dann funkeln sie golden, rot und grün. Trifft dieses Funkeln auf ein menschliches Auge, dann verspürt der Mensch einen Hauch von Traurigkeit und ein Flackern im Bauch. Das ist eben ein flüchtiger Augenblick und auch gleich wieder vorbei.
Solche Momente erlebt jeder Mensch, Erwachsene und Kinder gleichermaßen auf der ganzen Welt. Auch den Hunden passiert es manchmal, dann rennen sie los und wedeln freudig mit dem Schwanz, so, als ob sie einen Freund gesehen hätten. Auf einmal bleiben stehen, schnüffeln am Boden, verfolgen mit der Nase eine Spur und blicken sich plötzlich verwundert um. Ob Hunde die Herzkäfer riechen können, das wissen wir leider nicht, denn sie können es uns nicht erzählen.
Erwachsene Menschen nehmen sich oft nicht die Zeit, über solche Momente nachzudenken, sie zu fühlen, denn meist haben sie etwas anderes im Kopf, das sie beschäftigt.
Kinder jedoch erleben diesen winzigen Moment des Glitzerns am Boden anders, denn sie fühlen den Augenblick, ohne an Vergangenheit oder Zukunft zu denken. Man sagt dann vielleicht: „Sie sind gerade abwesend“ oder „Sie sind ganz in ihr Spiel vertieft“.
Das Spiel ist für ein Kind eine kleine Welt in der großen Welt, manchmal vielleicht ähnlich wie ein Traum. Ein Traum, den man träumt, ohne zu schlafen. Oder eine Geschichte die man sich selbst erzählt.
Für Erwachsene ist es schwer, die Zeit anzuhalten und sich vorbehaltlos auf die Welt einzulassen. Es fällt ihnen schwer, denn sie wollen 1. vernünftig sein und 2. vertrauen sie der Welt nicht mehr so, wie es ein Kind tut.
Dabei ist es doch so, dass man wundersame Dinge überall finden kann. Man muss nur gut hinschauen. Und sich darauf einlassen. Tut man dies, ist die Welt voller wunderbarer Dinge.
Die kleinen Herzkäfer wissen, dass alles Lebendige Gefühle hat, der Fuchs, der Adler, der Fisch, die Biene, der Baum und wir Menschen.
Sie ernähren sich nicht von Samen oder Früchten, sondern von einem Gefühl: der Traurigkeit.
Da auch Tiere, genauso wie Menschen, traurig sein können, sind für die kleinen Käfer alle gleich wichtig.
Als kleine Retter sind sie überall unterwegs, denn ihre Aufgabe ist es, die Splitter der traurigen Herzen einzusammeln.
So, wie beispielsweise ein Hund die Angst riechen kann, so riechen die Herzkäfer, wenn jemand traurig ist. Wird diese Trauer sehr stark, dann kommt es vor, dass ein Stück aus dem Herz herausbricht. Diese Stelle im Herzen wird dann dunkel. Ein winziges Stück der Traurigkeit klebt immer an der Innenseite des Herzsplitters und wird von den Herzkäfern sogleich abgenagt. Dann ist der Splitter sauber und die Käfer haben genug Kraft, um ihn wegzutragen.

Kapitel 2
Die alten Hüter
Glücklicherweise müssen die Käfer nie allzu weit laufen, denn es befinden sich überall auf der Welt geheime Orte, an denen die Herzsplitter gesammelt werden.
Dort werden sie ordentlich einsortiert, für jedes Herz gibt es eine eigene Schale.
Die Herzen der Menschen und Tiere sind sich sehr ähnlich, in ihnen wohnen die Gefühle. Freude und Traurigkeit, Liebe und Hass.
Erfährt ein Lebewesen viel Liebe, so glänzt sein Herz wie frisch poliert. Und das kann man in den Augen erkennen: sie leuchten.
Diese geheimen Orte, an denen die Splitter der gebrochenen Herzen aufbewahrt werden, sind bisweilen versteckt in den Bergen, in Höhlen oder unter der Erde. Manchmal auch in einem Bach hinter dem Wasserfall oder in der Wüste, tief in einer Felsenschlucht oder im Dschungel unter der Wurzel eines großen Baumes. Auch im Meer gibt es diese geheimen Orte. Für die Lebewesen im Wasser.
Man kann sie sich vorstellen wie eine beleuchtete Höhle. Darin herrscht ein zart schimmerndes Licht.
Das kommt von den Splittern der Herzen, die in den Schalen liegen. Ihr Glimmen ist hell genug, es ist nicht nötig Kerzen anzuzünden.
Für jeden Menschen und für jedes Tieres existiert an einem dieser geheimen Orte eine eigene Schale, vom Tag seiner Geburt an, das ganze Leben lang.
Und in jeder dieser Höhlen wohnt ein alter Hüter. Der bewacht die Herzschalen und passt gewissenhaft auf. Er spricht mit ihnen, erzählt ihnen Geschichten und staubt sie ab. Es ist sehr wichtig, dass nicht ein winziger Splitter verloren geht.
Die Hüter der Herzen haben viele unterschiedliche Farben.
Es gibt sie in grün oder orange. Manche sind auch gesprenkelt oder schillern in verschiedenen Farben. Sie sehen ähnlich aus wie Zwerge. Aber sie sind viel größer. Größer auch als ein Mensch.
Im Grunde sehen sie aus wie ein weiser alter Mann. Nur eben bunter.
Jeder Hüter ist froh, wenn von einem Herz nur wenige Splitter in der Schale liegen. Am besten kein einziger. Aber das kommt selten vor. Schlimm ist es, wenn fast das ganze Herz zersplittert in der Schale liegt. Denn dann wird aus diesem Menschen ein sehr trauriger Mensch.
Und noch dazu: ein Mensch, der nicht weiß, was er will.
Denn was weiß schon jemand, der ohne Herz entscheidet?
Fortsetzung folgt