Eschenkind
Eschenkind

Eschenkind

„Mein“
Eschenkind ist für mich auch auf seine Art real. Zum einen, weil ich darin
eigene Erlebnisse eingewoben habe und zum anderen, weil ich Bäume als
eigenständige Wesenheiten betrachte. Ich besitze wohl eine mystische Ader, die
gerne irgendwo „andockt“. Und bisweilen erhalte ich Antworten.

Eschenkind

Prolog
Nymphen, Bäume und Menschen

Bild - Eschenkind sitzt in Baum

Einstmals, vor vielen hundert Jahren, da erwachte ein kleiner Baumsamen.

Die kleine Flügelnuss einer Esche fühlte, dass es nun Zeit wäre zu wachsen.  Feuchte, duftende Erde unter sich und die warmen
Strahlen der Sonne von oben, wachte sie auf aus einem tiefen Schlaf. Sie dehnte sich aus, streckte sich und sprengte ihre Hülle. Lebenshungrig reckte sie den ersten
zarten Trieb hinauf Richtung Himmel und begann, zwei runde hellgrüne Blättchen
im Morgenlicht zu öffnen.

Seit drei Jahren lag sie schon am Hang des felsigen Berges und hatte auf den richtigen Moment gewartet, um mit dem Wachsen zu beginnen.

Der Berghang, der ihre Heimat werden sollte, lag Richtung Osten und führte hinab in eine sanft gerundete Meeresbucht.

Das gleichmäßige Klatschen der Brandung schallte rhythmisch von den Felsen zurück und man hätte meinen können, ein großer, fauler Drache läge am Strand und schmatzte zufrieden vor sich hin.

Weiße Möwen flogen dicht über den Wellen hin und her und riefen sich mit krächzenden Stimmen Meldungen zu.

Einstmals im alten Griechenland, da begann die kleine Flügelnuss zu wachsen und sie wurde zum Anfang unserer Geschichte.

Echidna

Nicht weit von ihr entfernt erhob sich eine steile Felswand aus grauem Stein, es war der Eingang in eine Höhle. Dunkel, wie ein offenes Maul, führte diese Höhle tief in den Berg hinein.

Ein schmaler Pfad führte von oben am Hang herab und endete dort.

Dünne Schwaden von Räucherwaren kräuselten sich heraus aus dem Dunkel und lösten sich auf im Morgenlicht. Süßliche Düfte mischten sich mit der salzigen Luft des Meeres.

Oft sah man Frauen aus den umliegenden Dörfern diesen Pfad begehen, sie hatten Opfergaben dabei und gingen in die Höhle, um die Nymphe Echidna (altgriechisch Ἔχιδνα Échidna) um Hilfe zu bitten oder um Rat zu fragen.

Echidna war seit Urzeiten in der Höhle zu finden und sie war einerseits ein fleischfressendes Monster, unwiderstehlich und unerbittlich, andererseits hatte sie die Macht, Hilfe zu geben. Weder war sie sterblich wie die Menschen noch war sie wie ein Gott.

Sie war halb Nymphe mit leuchtenden Augen und rosigen Wangen und halb eine riesige, gefleckte Schlange. Groß und schrecklich war sie anzusehen und dennoch schön und bezaubernd.  Sie konnte nicht sterben noch jemals altern.

Echidna wurde sowohl gefürchtet als auch verehrt.

Man erzählte sich, dass ein Besuch bei ihr von Sorgen und Ängsten befreien würde. Wenn sie denn Lust dazu hatte. Und bereit war, ihren Zauber wirken zu lassen.

Ihre Hilfe gab es nicht umsonst. Sie verlangte etwas dafür. Deshalb brachten alle Menschen, die den Mut hatten, in ihre Höhle zu gehen, Geschenke für sie mit. Damals nannte man ein Geschenk für einen Geist, eine Nymphe oder einen Gott: eine Opfergabe.

Die verschiedensten Opfergaben lagen in der Höhle: Fleisch, Blumen, Obst, schöne
Stoffe, auch Münzen, Kräuter und Schmuck. Und viele kleine Täfelchen aus Holz
oder Ton, auf denen die Wünsche und Bitten der Menschen geschrieben standen.

Die Höhlennymphe Echidna war dafür bekannt, dass sie nicht immer gewillt war, sich zu zeigen, manchmal kamen die Menschen umsonst in ihre Höhle, denn sie zeigte sich nicht. Dann ließen sie ihre Opfergaben und ihre Bitte dort zurück.

Direkt hinter dem Höhleneingang lag ein hoher, runder Raum. Von dort führte die Höhle tief, tief in den Berg hinein. Niemand wagte es, weiter als bis in den ersten Raum zu gehen. Alle warteten dort.

Wenn Echidna entschied, sich zu zeigen, dann hörte man als Erstes aus dem Höhlenschlund ein Rasseln. Das wurde lauter und lauter, Staub wirbelte auf, ein unheimliches Dröhnen erhob sich und schien von allen Seiten aus den Felswänden zu kommen und plötzlich war sie da:

Rasselnd und zischend erhob sie sich aus dem Dunkel, hoch bis an Decke des Raumes. Ihr Körper war vom Bauch abwärts der einer gefleckten Schlange. Dick, glänzend und unheimlich kraftvoll zuckte und wiegte er sich vor und zurück.

Vom Bauch aufwärts sah Echidna aus wie eine junge Frau. Ihre Haut war goldbraun und schimmerte im schwachen Licht, die Arme, behängt mit goldenen Reifen, bewegten sich zum Zucken des Unterleibs in einem anmutigen Tanz. Glänzende Haare, dick wie Seetang, hingen ihr über die Schultern. Tiefschwarze, hypnotische Augen leuchteten in dunklem Glanz und wenn sie lächelte, dann sah man weiße Fangzähne in ihrem Mund.

Sie duftete nach Moschus und Zimt.

Nicht jeder Mensch konnte ihren Anblick ertragen. Sie war betörend und erschreckend zugleich. Einige rannten vor Angst davon.

Doch denen, die mutig genug waren zu bleiben und ihren Wunsch vorzutragen, half sie und gab ihnen Rat.

Dort also, bei Echidnas Höhle, wuchs nun der kleine Samen. Er war sicher an diesem Ort, denn kein Mensch hätte es gewagt, auch nur ein Steinchen mitzunehmen.

 Zudem war es ein Platz, an dem die Sonne sich am Morgen aus dem Meer erhob und der Ostwind schenkte feuchte Nebelduschen, die warm vom Strand heraufzogen.

Dort entwickelte sich der kleine Eschensamen prächtig. Er bildete neue Blätter, wurde höher und höher und streckte seine Äste in alle Richtungen.

Nach zehn Jahren war aus ihm ein schlankes, biegsames Bäumchen geworden, nach dreißig Jahren eine hohe, stolze Esche.  

Nah beim Höhleneingang stand sie und reckte ihre Äste wie ein schützendes Dach über den Eingang.

Ein kleines Graspolster hatte sich an ihrem Stamm gebildet und man konnte sich hineinlegen wie auf ein weiches Bett. Von oben raunten die Blätter im Wind, von unten rauschte das Meer.

Eine tiefe Ruhe überkam die Menschen, die sich dort niederlegten und sie fühlten sich beschützt und geborgen.

 Oft schliefen sie ein…

Eschenkind

Heute …

Sie merkten es nicht. Denn auch dieser Ort war ein Zauberplatz. Sie dachten, sie wären noch wach. Über ihnen, im Baum, saß ein Mädchen. Das war ein Baumgeist, eine Meliade.

Die Meliaden oder Meliai (altgriechisch Μελιάδες Meliádes, von μελία melía, die Esche) sind diese Baumgeister, die nur in den Eschen wohnen.

Sie sind von ewigem Leben und ewiger Schönheit. Und sie sind die ältesten Baumgeister, die es auf der Erde gibt.

Jede dieser Meliaden hat ihren Lieblingsbaum.

Diese eine Meliade, die sich einstmals vor vielen Jahren in der jungen Esche aus unserer Geschichte niedergelassen hatte, wurde für die Menschen ihrer Zeit auch etwas Besonderes.

Weil sie in dem heiligen Baum wohnte, der bei der Höhle der Echidna wuchs.

Sie schliefen also ein und wurden im Traum wieder wach. Sie lagen unter der Esche und blickten hinauf in die Baumkrone.

Dort saß ein junges Mädchen.

Entspannt, aber aufmerksam blickend, hatte es sich, halbsitzend, halb liegend auf den oberen Ästen niedergelassen. Und schaute zu dem Menschen hinab.

Zartgliedrig von Gestalt, mit weißer Haut, fast durchscheinend, mit langen, weißen Haaren, die es wie Federn umwoben. Nur die rabenschwarzen Augen blickten durchdringend aus dem schmalen Gesicht.

Seine Füße schwangen leicht hin und her, wie bei einem Kind, wenn es auf der Schaukel sitzt und es waren nicht die Füße eines Menschen. Sie waren sehr schmal, hatten kurzes, weißes Fell und wunderschöne, glänzende, schwarze, gespaltene Hufe. Wie bei einem Reh. Oder wie die knospenden Triebe einer Esche.

Etwas Kindliches ging von ihm aus, dennoch wirkte es unheimlich stark und energiegeladen.

Die Frauen gaben ihm den Namen melía  bethi ( μελία Παιδί), Kind der Esche oder Eschenkind.

Seit diesen Tagen sind tausende von Jahren vergangen.

Viele Menschen glauben nun an andere Götter. Oder sie haben die Naturgeister vergessen.

Doch die Sorgen und die Hoffnungen der Menschen sind gleichgeblieben.

 Für Baumgeister spielt die Zeit keine Rolle. 

Es wird sie geben, solange es Bäume auf der Erde gibt.

Die junge Esche vom Anfang der Geschichte lebt heute nicht mehr, denn auch Bäume werden alt und sterben. Sie war jedoch dreihundert Jahre alt geworden und hatte viele, viele Kinder in die Welt hinausgeschickt.  Also viele, viele junge Eschen. Und diese wiederum haben viele, viele, neue Eschen hervorgebracht. Und so weiter und so weiter.

Die Kinder der Esche von damals sind inzwischen über ganz Europa verteilt.

Sie stehen an den warmen Gestaden des Mittelmeeres, in den schattigen Schluchten der Alpen, an den Ufern der schönen Donau und beim Vater Rhein.

Vom sonnigen Griechenland bis weit hinauf in die Nordländer und weit hinein in den Kaukasus haben Millionen kleiner Flügelnüsse die Täler und Gebirge Europas erobert und sind zu Bäumen gewachsen.

So hat sich nun auch die Zeit für die Meliaden verändert. 

Keiner weiß mehr von ihnen, aber sie sind nun zu Hause in allen Wäldern Europas.

Fortsetzung folgt

Bild - Eschenkind sitzt in Baum

Kapitel 1: Nina

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